Routingprotokolle
Was sind Routing-Protokolle und warum sind sie unverzichtbar?
Die Notwendigkeit dynamischer Routenfindung
Stell dir vor, du bist als Kurierfahrer:in in einer riesigen, sich ständig verändernden Metropole unterwegs. Jeden Tag gibt es neue Straßen, Baustellen oder unvorhergesehene Sperrungen. Gedruckte Stadtpläne wären hier schnell veraltet und unbrauchbar. Du bräuchtest ein System, das dir automatisch und dynamisch immer den effizientesten Weg zu jeder Adresse anzeigt, idealerweise unter Berücksichtigung der aktuellen Verkehrslage. Genau diese Aufgabe erfüllen Routing-Protokolle für Datenpakete in Computernetzwerken, insbesondere im riesigen und sich kontinuierlich wandelnden Internet. Während statisches Routing (manuell von Administrator:innen festgelegte Routen) in sehr kleinen, stabilen Netzwerken noch funktionieren mag, ist es für große, dynamische Umgebungen völlig unpraktikabel. Routing-Protokolle ermöglichen es Routern, selbstständig:
- Informationen über erreichbare Netzwerke untereinander auszutauschen.
- Die aktuell besten Pfade zu allen möglichen Zielen im Netzwerk zu ermitteln.
- Ihre internen "Wegweiser", die Routing-Tabellen, automatisch zu erstellen und bei Netzwerkänderungen (z.B. dem Ausfall eines anderen Routers oder einer wichtigen Verbindungsleitung) blitzschnell anzupassen.
Die grundlegende Funktionsweise
Routing-Protokolle definieren die "Sprache" und die Regeln, nach denen Router miteinander kommunizieren, um sich gegenseitig über die Struktur und den Zustand des Netzwerks auf dem Laufenden zu halten. Vereinfacht lässt sich der Prozess so beschreiben:
- Router tauschen Nachrichten über die Netzwerke aus, die sie direkt erreichen können oder deren Erreichbarkeit sie von anderen Routern gelernt haben.
- Sie bewerten die "Qualität" oder "Kosten" dieser Routen anhand bestimmter Kriterien (sogenannter Metriken, z.B. die Anzahl der Zwischenstationen (Hops), die Geschwindigkeit der Verbindung, die aktuelle Auslastung).
- Jeder Router baut auf Basis dieser gesammelten Informationen seine eigene Routing-Tabelle auf. Diese Tabelle ist entscheidend dafür, über welchen nächsten "Hop" (also den nächsten direkt erreichbaren Router) ein ankommendes Datenpaket weitergeschickt wird, um sein letztendliches Ziel zu erreichen.
Wie werden Routing-Protokolle kategorisiert?
Interior Gateway Protocols (IGP) vs. Exterior Gateway Protocols (EGP)
Routing-Protokolle lassen sich grundlegend danach einteilen, ob sie für den Einsatz innerhalb eines einzelnen, unabhängigen Netzwerks oder für die Kommunikation zwischen solchen Netzwerken konzipiert sind:
- Interior Gateway Protocols (IGP): Diese Protokolle operieren innerhalb eines einzelnen Autonomen Systems (AS). Ein Autonomes System ist ein Netzwerk oder eine Verbundgruppe von Netzwerken, die unter einer einheitlichen technischen Verwaltung und mit einer gemeinsamen Routing-Richtlinie betrieben werden (z.B. das Netzwerk eines Unternehmens, einer Universität oder eines Internet-Service-Providers). IGPs sind dafür zuständig, das Routing innerhalb dieser Organisation optimal zu gestalten. Bekannte Beispiele für IGPs sind RIP und OSPF. Stell dir das wie das interne Logistiksystem eines großen Versandhändlers vor, das Pakete zwischen den verschiedenen Lagerhallen und Verteilzentren des eigenen Unternehmens bewegt.
- Exterior Gateway Protocols (EGP): Diese Protokolle werden für das Routing zwischen verschiedenen, unabhängigen Autonomen Systemen eingesetzt. Sie sind die "Brücken", die die einzelnen Netzwerk-"Inseln" (die AS) miteinander verbinden und so das globale Internet formen. Das mit Abstand wichtigste und heute praktisch ausschließlich verwendete EGP ist BGP (Border Gateway Protocol). Dies ist vergleichbar mit den internationalen Speditionen und Postdiensten, die Sendungen über Länder- und Unternehmensgrenzen hinweg transportieren und sicherstellen, dass dein Paket von einem Kontinent zum anderen gelangt.
Arten der Routenfindung: Distanzvektor, Link-State und Pfadvektor
Die Protokolle nutzen unterschiedliche Algorithmen und Herangehensweisen, um Routing-Informationen zu sammeln, auszuwerten und die besten Pfade zu berechnen:
- Distanzvektor-Protokolle (z.B. RIP):
- Router teilen ihren direkten Nachbar-Routern in regelmäßigen Abständen ihre gesamte aktuell bekannte Routing-Tabelle mit (vereinfacht: "Ich kenne den Weg zum Netzwerk X, und er kostet mich Y Einheiten").
- Sie lernen Routen basierend auf der "Distanz" (die Metrik, oft die Anzahl der Hops) und der "Richtung" (dem Vektor, also über welchen Nachbarn das Ziel erreichbar ist), wie es ihnen von ihren Nachbarn berichtet wird. Dies wird auch als "Routing by Rumor" (Routing nach Gerüchten) bezeichnet, da jeder Router auf die Korrektheit der Informationen seiner direkten Nachbarn vertraut.
- Analogie: Stell dir vor, du möchtest zu einem weit entfernten Ort gelangen und fragst nur deine direkten Nachbar:innen nach dem besten Weg. Jede:r Nachbar:in sagt dir, wie viele Stationen es von ihm oder ihr aus sind. Du wählst die Nachbar:in, die dir die geringste Anzahl an Stationen nennt, ohne selbst die gesamte Landkarte zu kennen.
- Link-State-Protokolle (z.B. OSPF):
- Jeder Router sendet Informationen über den Zustand seiner direkten Verbindungen (Links) und deren "Kosten" (Metrik, oft basierend auf Bandbreite) an alle anderen Router innerhalb desselben Routing-Bereichs (Area) im Autonomen System.
- Auf Basis dieser gesammelten Informationen erstellt jeder Router eine identische, vollständige "Karte" (Topologie-Datenbank) des Netzwerks. Mit dieser Karte kann jeder Router dann selbstständig den kürzesten Pfad zu allen anderen bekannten Zielen berechnen (meist mittels des Dijkstra-Algorithmus).
- Analogie: Stell dir ein soziales Netzwerk vor, in dem jede Person (Router) ihre direkten Verbindungen (Links) und vielleicht die "Stärke" dieser Verbindung (Kosten) öffentlich postet. Jede:r im Netzwerk sieht alle diese Posts und kann sich so ein komplettes Bild des gesamten Bekanntenkreises (Netzwerktopologie) machen und den kürzesten "Verbindungsweg" zu jeder anderen Person ermitteln.
- Pfadvektor-Protokolle (z.B. BGP):
- Router tauschen nicht nur Informationen über die Erreichbarkeit von Zielnetzwerken aus, sondern auch den gesamten Pfad der Autonomen Systeme (AS-Path), der durchlaufen werden muss, um dieses Ziel zu erreichen.
- Die Routenwahl basiert weniger auf rein technischen Metriken als vielmehr auf komplexen, administrativ festgelegten Richtlinien (Policies) und dem AS-Pfad. Dies dient unter anderem dazu, Routing-Schleifen zwischen Autonomen Systemen zu vermeiden und geschäftliche Vereinbarungen umzusetzen.
- Analogie: Vergleichbar mit der Planung einer internationalen Frachtroute, bei der nicht nur Distanz, sondern auch Transitländer (AS) und Zollbestimmungen (Policies) zählen.
Welche gängigen Routing-Protokolle gibt es und was zeichnet sie aus?
RIP (Routing Information Protocol) – Der einfache Klassiker
- Kategorie: IGP, Distanzvektor-Protokoll.
- Funktionsweise:
- Verwendet den Hop Count (Anzahl der Router, die auf dem Weg zum Ziel passiert werden) als alleinige Metrik. Der beste Weg ist immer der mit den wenigsten Hops.
- Router senden periodisch (standardmäßig alle 30 Sekunden) ihre komplette Routing-Tabelle an ihre direkten Nachbarn.
- Merkmale:
- Einfach zu konfigurieren und zu verstehen.
- Langsame Konvergenz: Es dauert vergleichsweise lange, bis sich Änderungen im Netzwerk (z.B. der Ausfall einer Route) im gesamten Netzwerk herumgesprochen haben und alle Routing-Tabellen aktualisiert sind.
- Begrenzte Skalierbarkeit: Die maximale Anzahl erlaubter Hops ist auf 15 begrenzt; ein Ziel, das 16 oder mehr Hops entfernt ist, gilt als unerreichbar. Daher ist RIP für größere Netzwerke ungeeignet.
- Einsatz: Aufgrund dieser Limitierungen wird RIP heute meist nur noch in sehr kleinen, stabilen Netzwerken, in Testumgebungen oder zu Ausbildungs- und Lernzwecken eingesetzt. Die Informationsverbreitung ähnelt dem Kinderspiel "Stille Post": Informationen verbreiten sich langsam und können über viele Stationen ungenau werden oder verloren gehen.
OSPF (Open Shortest Path First) – Der leistungsstarke Standard für interne Netze
- Kategorie: IGP, Link-State-Protokoll.
- Funktionsweise:
- Router tauschen sogenannte Link-State Advertisements (LSAs) aus. Diese LSAs enthalten detaillierte Informationen über die direkten Verbindungen eines Routers zu seinen Nachbarn und die "Kosten" dieser Verbindungen. Die Kosten werden oft von der Bandbreite der Verbindung abgeleitet (schnellere Verbindungen haben niedrigere Kosten und werden daher bevorzugt).
- Jeder Router innerhalb desselben OSPF-Bereichs (Area) baut eine identische Datenbank der Netzwerktopologie auf – quasi eine detaillierte Landkarte des Netzwerks.
- Mit dem Shortest Path First (SPF) Algorithmus (meist der Dijkstra-Algorithmus) berechnet jeder Router selbstständig den kürzesten (kostengünstigsten) Pfad zu allen anderen bekannten Zielen im Netzwerk.
- Merkmale:
- Schnelle Konvergenz: Änderungen im Netzwerk werden zügig an alle relevanten Router weitergegeben, und neue, optimale Routen werden schnell berechnet.
- Sehr skalierbar: Unterstützt ein hierarchisches Design durch die Einteilung des Netzwerks in "Areas". Dies reduziert die Größe der Routing-Tabellen und den durch das Protokoll verursachten Netzwerkverkehr in großen Netzwerken erheblich.
- Effizient: Sendet Updates nur dann, wenn sich tatsächlich etwas im Netzwerk ändert (getriggerte Updates), und nicht periodisch die gesamte Routing-Tabelle.
- Einsatz: OSPF ist ein sehr weit verbreitetes und robustes IGP, das in mittleren bis sehr großen Unternehmensnetzwerken sowie bei Internet Service Providern für deren internes Routing eingesetzt wird. Es funktioniert wie ein modernes, intelligentes Navigationssystem, das alle verfügbaren Routen kennt, die aktuelle "Verkehrslage" (Link-Kosten) berücksichtigt und bei "Staus" (Ausfällen) sofort optimale Alternativrouten berechnet.
BGP (Border Gateway Protocol) – Das Rückgrat des globalen Internets
- Kategorie: EGP, Pfadvektor-Protokoll.
- Funktionsweise:
- BGP ist das Protokoll, das verwendet wird, um Routing-Informationen zwischen den großen, unabhängigen Netzwerken (Autonomen Systemen), aus denen das Internet besteht, auszutauschen.
- Die Routenwahl in BGP basiert nicht primär auf rein technischen Metriken wie Geschwindigkeit oder Hop Count, sondern maßgeblich auf administrativen Richtlinien (Policies). Diese Policies werden von den Betreibenden der Autonomen Systeme definiert und können Aspekte wie Kosten für die Nutzung bestimmter Pfade, vertragliche Vereinbarungen zwischen Providern, politische Überlegungen oder die Vermeidung bestimmter Transit-AS umfassen.
- Es verwendet den AS-Path – die Sequenz der Autonomen Systeme, die durchquert werden müssen, um ein Zielnetzwerk zu erreichen – als eine der wichtigsten Metriken und vor allem zur effektiven Vermeidung von Routing-Schleifen im globalen Internet.
- Merkmale:
- Extrem skalierbar: BGP wurde speziell dafür entwickelt, die immense Anzahl von Routen im globalen Internet (viele Hunderttausende bis Millionen) effizient zu verwalten.
- Stark richtlinienbasiert: Ermöglicht eine sehr feingranulare und flexible Steuerung der Routenwahl, was für die Betreibenden von großen Netzwerken und für die Stabilität des Internets unerlässlich ist.
- Komplex: Die Konfiguration, das Management und das Troubleshooting von BGP erfordern tiefgehendes Fachwissen und erhebliche Erfahrung.
- Einsatz: BGP ist das De-facto-Standardprotokoll für das Routing im Internet. Es verbindet die Netzwerke von Internet Service Providern, großen Unternehmen, Content Delivery Networks und anderen wichtigen Akteuren weltweit. Es lässt sich mit komplexen internationalen Abkommen vergleichen, die den globalen Datenverkehr regeln.
Lernziele
- die grundlegende Funktionsweise von Routing-Protokollen erklären, indem die Notwendigkeit für dynamisches Routing, der Austausch von Routing-Informationen zwischen Routern und die automatische Erstellung sowie Aktualisierung von Routing-Tabellen beschrieben werden.
- die verschiedenen Kategorien von Routing-Protokollen klassifizieren, indem Interior Gateway Protocols (IGP) und Exterior Gateway Protocols (EGP) sowie die Hauptunterschiede zwischen Distanzvektor-, Link-State- und Pfadvektor-Protokollen anhand ihrer Funktionsweise und typischen Anwendungsbereiche erläutert werden.
- die Funktionsweise und charakteristischen Merkmale gängiger Routing-Protokolle vergleichen, indem Protokolle wie RIP, OSPF und BGP hinsichtlich ihrer verwendeten Metriken, Konvergenzgeschwindigkeit und Skalierbarkeit gegenübergestellt werden.